#MeinKlassiker (15): Sabine Delorme und die größere Hoffnung

Das Buch habe sie tief berührt, erzählt Literaturbloggerin Sabine Delorme von ihrer Wahl. Die fiel auf Ilse Aichinger und deren Roman “Die größere Hoffnung”.

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Bild von Peggy Choucair auf Pixabay

Was diese Frau so alles treibt – dieser Filmtitel würde auch auf Sabine Delorme passen. Auf ihrem Blog „Binge Reading & More“ berichtet sie regelmäßig in der Rubrik „Meine Woche“ über ihre Aktivitäten und ich habe jedes Mal beim Lesen das Gefühl, ihr Tag muss 24 Stunden haben. Und neben den ganzen anderen Kleinigkeiten liest die Frau noch eine ganze Menge – zum Beispiel extra jetzt für die Reihe #MeinKlassiker ein ganz besonderes Buch:

Eigentlich wäre es wohl logischer gewesen, bei Birgits #MeinKlassiker einen zu nehmen, den man sehr liebt und vielleicht mehrfach gelesen hat. Kam ich aber irgendwie nicht drauf. Ich habe von Anfang an die Idee gehabt, einen Klassiker zu nehmen, den ich schon lange lesen wollte und der schon viel zu lange bei mir im Regal stand und mich vorwurfsvoll anschaute.

Mit Ilse Aichingers „Die größere Hoffnung“ wollte ich endlich eine Lücke schließen, der ich mir auch seit der Lektüre von „Ingeborg Bachmanns Wien“ noch einmal bewusster geworden bin. Ich kannte bislang fragmenthaft Aichingers Lebensgeschichte und hatte ein paar ihrer wunderbaren Gedichte gelesen. Bevor ich auf „Die größere Hoffnung“ eingehe, noch ein paar Worte zu ihrem persönlichen Hintergrund, der locker Filmmaterial für 1-2 Streifen bieten würde: die Geschichte von den Zwillingsschwestern, die als junge Frauen unter der Nazi-Herrschaft in Österreich getrennt und Jahre später erst wieder vereint werden. Eine auf dem besten Weg, eine berühmte Schauspielerin zu werden, die andere eine der berühmtesten österreichischen Schriftstellerinnen.

Ilses Schwester Helga lebte in London, seit sie 1939 mit dem letzten Kindertransport dorthin gebracht wurde. Sie lebte dort mit ihrer Tante Klara, einer Linguistin, die Wien ein Jahr zuvor verlassen hatte. Ilse und der Rest der Familie sollten eigentlich kurz darauf nach London ausreisen, doch es war zu spät. Die Grenzen waren geschlossen, die Familie eingeschlossen und insbesondere die jüdische Großmutter der beiden Mädchen in Gefahr. Ihre Mutter Berta war eine der ersten weiblichen Ärzte in Österreich und gleichzeitig auch Komponistin. Besonders gruselig fand ich die Tatsache, dass Ilse und Helga als Kinder Josef Mengele trafen, einen Kollege ihrer Mutter. Mengele erlangte später insbesondere durch seine schrecklichen Versuche an Zwillingen grausame Berühmtheit.

Nachdem Ilse die Schule beendet hatte, arbeite sie in den ersten Kriegsjahren in einer Knopffabrik in Wien. 1942 wurde sie von einem befreundeten Deutschen darüber informiert, dass der Bezirk, in dem ihre Großmutter lebt, von der Gestapo durchsucht werden würde. Ilse versuchte, ihre Großmutter zu warnen, doch sie kommt zu spät. Ihre Großmutter, zu dem Zeitpunkt mit einer Lungenentzündung im Bett liegend, ihr Onkel Felix und ihre Tante Erna waren mitgenommen worden. Nur ihre Mutter Berta konnte sich verstecken, die zu dem Zeitpunkt einen Nachbarn besucht hatte.

Sie schafft es noch, einen Blick auf ihre Familie zu erhaschen bevor sie weggebracht wird und die Bilder, wie die drei eingepfercht in einen Viehtransporter wegfahren, werden sie ein Leben lang verfolgen. Sie wird nie erfahren, was aus ihrer geliebten Großmutter sowie Onkel und Tante wird. Im Roman wird die Großmutter nicht abtransportiert, sondern nimmt sich aus Angst vor Deportation das Leben.

Nach den Deportationen versuchte Ilse Aichinger den Kopf einzuziehen und bloß nicht aufzufallen im besetzten Wien. Sie sehnte sich nach ihrer Großmutter, nach ihrer Zwillingsschwester, mit der sie durch das Rote Kreuz in Kontakt bleiben konnte. Wie ihre Protagonistin Ellen hofft auch Ilse, mit einem Kindertransport in die Freiheit zu gelangen.

Ilse Achingers Stil wurde häufig mit Franz Kafka verglichen mit Blick auf den Symbolismus und Bildsprache und auch ich habe mich beim Lesen von „Die größere Hoffnung“ des Öfteren an Kafka erinnert gefühlt. Der Roman ist ein surrealistischer Bericht, aus der Sicht des Mädchens Ellen erzählt. Sie ist ein Mischling und lebt in Wien, das von den Nazis besetzt ist. Ihren Freunden ist alles verboten, sie haben Angst vor der Gestapo und müssen einen Davidstern tragen. Da sie „nur“ Halbjüdin ist, unterliegt sie nicht den Rassegesetzen und hat daher das Gefühl, nicht komplett zu ihren Freunden zu gehören. Als ihre Freunde verhaftet und die geliebte Großmutter tot ist, läuft sie durch die heftig umkämpfte Stadt auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg …

“Ihre Schuld war geboren zu sein, ihre Angst war, getötet,  und ihre Hoffnung, geliebt zu werden: die Hoffnung, Könige zu sein. Um dieser Hoffnung willen vielleicht wird man verfolgt.“

Der Roman hatte nach Erscheinen nur recht wenige Leser, die Kritiken waren durchwachsen und es ist nie ein riesiger Bestseller geworden. Mich hat das Buch tief berührt. Ich habe unendlich viele Sätze markiert, brauchte immer wieder Pausen zwischen den einzelnen Kapiteln, ein Buch das unbedingt häufiger gelesen werden sollte.

Ilse wird Weihnachten 1947 endlich mit ihrer Zwillingsschwester vereint. Die Reisebeschränkungen der Nachkriegszeit und Geldknappheit hatten eine frühere Wiedervereinigung unmöglich gemacht. Ilse und ihre Mutter reisten 1947 nach Dover, ein Ort, den Ilse ein Leben lang mit Freiheit und Güte gleichsetzte und dem sie in ihrer Kurzgeschichte „Dover“ ein Denkmal setzt. Ilse trat anfangs in die Fußstapfen ihrer Mutter und studierte Medizin, ein Studium, das sie allerdings nach 5 Semestern abbrach, um sich voll und ganz auf die Literatur zu konzentrieren.

Zum ersten Mal in meinem Leben ist im Übrigen eine Autorin gestorben, während ich gerade ihr Buch las, das war ein ausgesprochen seltsames Gefühl und passte seltsam zu der bedrückenden Atmosphäre des Buches. R.I.P. Ilse.

Sabine Delorme
https://bingereader.org/


 

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen Aktuelle Rezensionen auf dem Literaturblog

12 Gedanken zu „#MeinKlassiker (15): Sabine Delorme und die größere Hoffnung“

  1. Habe den Namen immer mal gehört, aber nie etwas von ihr in die Finger bekommen. Vielen Dank für den Artikel! Er macht neugierig auf Mehr von Frau Aichinger mit ihrer sehr interessanten Lebensgeschichte

      1. Auf jeden Fall freue ich mich 🙂 Danke !

        Sorry gestern kam ich nicht wirklich ins Internet, deswegen kann ich mich erst heute richtig meinem Artikel hier widmen.

  2. Liebe Birgit – danke noch mal fürs Aufnehmen hier in die ehrwürdige Klassiker-Runde. Es hat mir großen Spaß gemacht dabei zu sein 🙂
    PS: Dein Tag hat auch 24 Stunden 😉

    1. Jaja … das mit den 24 Stunden …da habt ihr mich ertappt 🙂 Es wäre ja schon mal hilfreich, wenn man davon nicht auch noch zwei Drittel mit Schlafen, Arbeiten und anderen Dingen verbringen müsste 🙂

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