#MeinKlassiker (9): Hans Fallada – und was „Jeder stirbt für sich allein“ uns heute noch zu sagen hat

Wenn Marina Büttner an Klassiker denkt, dann leuchtet vor allem ein Buch für sie: Ein Roman, den Hans Fallada binnen vier Wochen schrieb.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Auf ihrem eigenen Blog „literaturleuchtet“ bringt Marina Büttner vor allem sehr interessante Neuerscheinungen zum Leuchten – häufig Romane, die eher Geheimtipps sind, viele Bücher aus Indie-Verlagen und vor allem auch regelmäßig Lyrik. Dass aber auch Klassiker leuchten, ist für das belesene Multitalent – Marina Büttner schreibt auch selbst, malt und zeichnet (http://www.marinabuettner.de/) – keine Frage. Ich freue mich über ihre Auswahl – Hans Fallada und seinen Roman über den Widerstand der „kleinen Leute“.

Als Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzens alias Hans Falladas letzter Roman „Jeder stirbt für sich allein“ im Jahr 2002 teils zum ersten Mal ins Englische und weitere Sprachen übertragen wurde, wurde er zum Weltbestseller. Die deutsche Neuauflage der ungekürzten Version auf der Grundlage des Originalmanuskripts kam 2011 auf den Markt und plötzlich wurde Fallada wieder gelesen!

Falladas Romane sind leicht zu lesen, keine Bücher, die sprachlich besonders hervorstechen, aber es sind Geschichten, die mitreißen und deren Stoff auch immer ein Stück deutscher Geschichte aufzeigt. Ob „Kleiner Mann – was nun?“, mit dem er 1932 weltbekannt wurde, ob „Ein Mann will nach oben“ oder „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“, es sind Werke, die Zeiten überdauern und dennoch aktuell sind. Gerade „Jeder stirbt für sich allein“ ist ein einzigartiges Zeitdokument, wurde es doch von einem Schriftsteller geschrieben, der in der Zeit des Nationalsozialismus nicht emigriert war, sondern in Deutschland lebte, wenn auch als `unerwünschter Autor` völlig zurückgezogen im mecklenburgischen Dorf Carwitz. 

Den Roman „Jeder stirbt für sich allein“ schrieb Fallada auf Anregung von Johannes R. Becher 1946 binnen vier Wochen. Wenn man seinen Gesundheitszustand bedenkt, ist das bemerkenswert und zeigt seinen unbedingten Drang schreiben zu müssen, aber auch von der finanziellen Misere, in der sich Fallada immer wieder befand, nicht zuletzt wegen seiner kostspieligen Morphin- und Alkoholabhängigkeit. Das Erscheinen des Romans hat er dann allerdings gar nicht mehr erlebt. Er starb 1947.

„Die Geschehnisse dieses Buches folgen in groben Zügen Akten der Gestapo über die illegale Tätigkeit eines Berliner Arbeiter-Ehepaares während der Jahre 1940 bis 1942. Nur in groben Zügen – ein Roman hat seine eigenen Gesetze und kann nicht in allem der Wirklichkeit folgen …“  

So schreibt Fallada im Vorwort seines Romans. Der Roman ist  angelehnt an die Geschichte der Eheleute Hampel, die außergewöhnlichen Widerstand gegen das NS-Regime, gegen die „Hitlerei“ leisteten. Mehr als 200 Postkarten schrieben und verteilten sie in verschiedenen Stadtvierteln in Berlin zu diesem Zweck. Fallada nennt das Ehepaar in seiner Geschichte Otto und Anna Quangel.

Der Roman besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil werden die Quangels und ihr Lebensumfeld in Berlin vorgestellt. Es sind einfache Leute aus dem Arbeitermilieu. Als eines Tages der Feldpostbrief mit der Nachricht des Todes ihres einzigen Sohnes eintrifft, sind die beiden am Boden zerstört. Ihnen wurde das Liebste genommen. Die Formulierung im Brief, der junge Mann sei den Heldentod für Führer und Vaterland gestorben, löst vor allem in Anna enormen Widerstand aus. Beide beschließen Postkarten mit dem Aufruf zum Widerstands gegen Hitler zu schreiben und heimlich in öffentlichen Räumen, vor allem Treppenhäusern, zu verteilen. Diese gemeinsame Aktion schweißt die beiden zusammen.
Im zweiten Teil wird von den ersten Funden der Karten erzählt, die alle bei der Polizei landen und von den Bestrebungen der Gestapo zunächst unter der Leitung des Kommissars Escherich, die Kartenschreiber ausfindig und unschädlich zu machen.
Im dritten Teil zieht sich die Schlinge um die Quangels mehr und mehr zu. Sie scheinen die Gefahr, in der sie sich befinden zu unterschätzen. Einmal wird Otto angezeigt, wird aber aufgrund mangelnder Beweise freigelassen. Doch wenig später verliert er am Arbeitsplatz aus Versehen einige Karten aus seiner Tasche, behauptet jedoch sie dort gefunden zu haben. Aufgrund dessen wird der Betrieb untersucht, Otto wird bald denunziert und verhaftet.
Im vierten Teil erzählt Fallada von den Verhören der Quangels, über die Gerichtsverhandlung bis zum Todesurteil und der Hinrichtung 1943. Es wird den Eheleuten nicht gestattet, sich vorher noch einmal zu sehen: Jeder stirbt für sich allein.

Falladas Roman ist einerseits Milieustudie vom Leben der „kleinen Leute“ im Berlin der NS-Zeit, zeigt andererseits deutlich, was das System einer Diktatur mit den Menschen macht. Jeder ist sich selbst der Nächste, jeder misstraut dem anderen, kann er doch jederzeit einem Denunzianten gegenüberstehen. Quangels handeln aus einem Wunsch nach Gerechtigkeit heraus, in der Hoffnung, es würden sich immer mehr ihrem Widerstand im Kleinen anschließen. Über zwei Jahre hinweg hegten sie mutig die Hoffnung, immer mehr Sand im Getriebe könne die NS-Maschinerie stoppen.

Mich hat die Geschichte der Eheleute Quangel zutiefst berührt – „normale“ Menschen, die aus ihrem Schmerz, aus ihrem Verlust des Sohnes heraus, beginnen zu hinterfragen: den Krieg, das System, den Führer. Sie hat mich vor allem deshalb berührt, weil ich mich selbst so oft schon fragte, wie hätte ich mich  damals verhalten? Hätte ich den Mut gehabt, aufzubegehren? Gerade der Schritt, mit den eigenen kleinen Möglichkeiten aus dem Privaten heraus zu versuchen, den Lauf der Geschichte aufzuhalten, zeigt die Größe dieser beiden Menschen.
Aus heutiger Sicht betrachtet, könnte gerade dieser Roman Anregung sein, zu verhindern, dass es irgendwann wieder so weit kommt und zwar rechtzeitig …

„Jeder stirbt für sich allein“ wurde mehrfach verfilmt, unter anderem 1976 mit Hildegard Knef und Carl Raddatz. Gerade in den Kinos angelaufen ist die Neuverfilmung von 2015 mit Emma Thompson und Brendan Gleeson.

Marina Büttner
literaturleuchtet – ein literarischer Buchblog


Bild zum Download: Skulptur

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

19 Gedanken zu „#MeinKlassiker (9): Hans Fallada – und was „Jeder stirbt für sich allein“ uns heute noch zu sagen hat“

  1. Ich kenne nur das Schicksal eines kleinen Mannes. Das der Familie Quangel leider nur über die Verfilmung. Liebe Birgit, ich weiß auch nicht wie ich gehandelt hätte. Und dann ist da noch das eigene Schuldgefühl und das Eingeständnis jemanden gewählt zu haben, der ihren Sohn für Vaterland und Volk geopfert hat. Die Frage ist doch, was opfern wir, wenn wir so oder so handeln? Vielleicht unsere Freiheit, wenn man sich diese WDR Doku hier /reportage.wdr.de/afd#17763 ansieht. Ich weiß es nicht. Ich habe mit Politik nicht so viel am Hut, aber ich sorge mich.

    Liebe Grüße,
    Tanja

    1. Liebe Tanja, die Fragen nach dem Handeln hat ja Marina, von der der Beitrag stammt, aufgeworfen – aber es sind auch solche, die mich beschäftigen. Zumal man jetzt schon ab und an im Alltag seine Zivilcourage unter Beweis stellen muss, wenn man in Diskussionen mit Menschen gerät, die sich zunehmend fanatisieren. Die Sorgen sind sicher berechtigt, aber Angst sollte man nicht regieren lassen: Ich bin einfach überzeugt davon, dass es gerade in solchen Zeiten wichtig ist, dass man auch für die demokratischen Werte einsteht. Der Roman von Fallada zeigt ja auch, wie die Leute anfangs von Hilter und Konsorten verführt wurden – aber wieviel Widerstandsfähigkeit und Mut dann noch da war, als es eigentlich zu spät war. Aber solche Beispiele sind wichtig. Liebe Grüße Birgit

      1. Dann sag ich…
        liebe Marina, ich weiß auch nicht wie ich gehandelt hätte […] . Wie angemerkt kenne ich „Jeder stirbt für sich allein“ nur über die Verfilmung mit der großartigen Hildegard Knef in der Rolle der Anna Quangel. Großes Kino! Aber was die Familie durchlebt ist furchtbar. In „Kleiner Mann – was nun?“ hat mir vor allem Falladas authentischer Sprachstil gefallen. Ich fürchte nur, dass diejenigen die angesprochen werden sollen, nicht empfänglich sind. Nicht mehr jedenfalls!

        Lieben Gruß,
        Tanja

  2. Ja, diese Fragen habe ich mir ja auch immer wieder gestellt und eine persönliche Antwort gefunden … nach der Lektüre mehrerer Bücher, die sich im engen oder weiteren Kreis mit dem Thema befassen. Und ich bin immer mehr überzeugt davon, dass wir nur so wirken können – aus dem Privaten heraus – mit unseren Entscheidungen – und es auch tun müssen. Denn sonst machen wir uns mitschuldig. Danke auch für diesen wunderbaren Klassiker in dieser tollen Reihe – die endlos weiter gehen dürfte 😉 ! LG, Bri

    1. Liebe Bri, ob endlos, weiß ich nicht – aber die Reihe geht ein Weilchen weiter. Und gerade solche Kommentare, wie sie heute Marinas Beitrag ausgelöst hat, zeigen, warum uns solche Bücher heute eben noch eine Menge sagen könnten.

      1. okay, ich gebe zu endlos war etwas übertrieben. Aber ich glaube tatsächlich, dass jeder von uns nicht nur einen Beitrag zu #meinKlassiker beisteuern könnte – das sieht man ja bereits daran, dass die Beiträger ab und an andeuten, sie hätten da noch etwas in petto … 😉

      2. Erfreulicherweise kommen inzwischen auch Beiträge, die ich in der ersten Runde gar nicht angefragt habe – um erstmal einen Testlauf zu machen. Aber das ist ja das schöne, dass sich jetzt auch andere Leute mit ihren Klassikern melden. Also wer weiß, vielleicht doch mittelfristig endlich 🙂

  3. Auch wenn wir derzeit noch weit entfernt sind vom Grauen der Nazizeit, ist es erschreckend, wie aktuell manche Klassiker sind. Ein toller Beitrag. Das Fallada-Haus in Carwitz werde ich mir mal als Ausflugsziel für den nächsten Sommer vormerken. Es ist nicht weit von unserem Haus in der Uckermark entfernt.

    1. Oh, wenn Du Carwitz besuchst, dann gib Bescheid – ich will da unbedingt auch einmal hin…
      Natürlich sind wir Gott sei Dank noch weit entfernt, aber, frei nach Brecht: Der Schoß ist fruchtbar wieder, aus dem das kroch…
      Und gerade deshalb finde ich es sehr schön, dass in der Reihe an diese modernen Klassiker erinnert wird, die derzeit unbedingt viel gelesen werden sollten…

  4. Ich kann mich noch gut an meine Überraschung erinnern, als wir 2010 in England in nahezu jedem Buchladen von der englischen Version von „Jeder stirbt für sich allein“ fast erschlagen wurden. Ein Buch, das mir gar nichts sagte, obwohl ich so das ein oder andere von Fallada durchaus gelesen hatte. Ich musste mich zuhause erst mal schlau machen. Unglaublich, dass so ein Buch fast verschollen wäre!

    1. Das kann ich mir gut vorstellen, dass man staunt, wenn das Buch eines deutschen Autoren einem auf Reisen so auffällig begegnet. Was aber auch dafür spricht, dass Fallada offenbar über (kulturelle) Grenzen hinweg Themen anspricht, die die Menschen bewegen.

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