#MeinKlassiker (8): Der Untertan, zum Zweiten

„Dieser Heßling ist moderner als er ausschaut, viel moderner“: So sieht Literaturblogger Peter Peters den Untertan von Heinrich Mann.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Ist der Untertan ein Produkt der wilhelminischen Zeit? Ein Duckmäuser, der nach oben buckelt und unten tritt? Einer, der sich in einem überalterten hierarchischen System nach oben dient? Oder ein moderner Mensch, der durch den Einsatz von „Selbstkompetenz“ auch heute noch seinen Weg machen könnte?
Es sind spannende Gedanken, die sich Peter Peters zum Untertanen macht. Wie heute morgen bereits erwähnt, war es ein Zufall, dass sich zwei Autoren für ein- und dasselbe Buch entschieden haben. Ich habe mich daher entschlossen, heute ausnahmsweise zwei Klassiker zu veröffentlichen – weil ich finde, dass die beiden Texte sich wunderbar ergänzen und in ihrer Unterschiedlichkeit mit einander korrespondieren.

Die Rezensionen bei „Peter liest“ schätze ich als Leserin sehr – weil deutlich wird, wie sehr sich der Autor mit den Werken, die er vorstellt, auseinandersetzt. Meist stellt Peter zwar Gegenwartsliteratur vor, doch ein Fontane-Projekt ist offensichtlich im Entstehen. Und ich freue mich, dass er für die Reihe #MeinKlassiker einen Roman vorstellt, der ihn seit dem Studium begleitet.

Die alte dtv-Ausgabe sieht zerschlissen aus, Einband und Buchblock vergilbt und ein bisschen verschmutzt, die Ecken leicht zerstoßen. Der Satzspiegel ist vielleicht nicht mehr state of the art, enges Schriftbild, wenig Seitenrand, so dass der Inhalt des Romans auf gut 360 Seiten passt statt, wie in der derzeit gängigen Taschenbuchausgabe des Fischer Taschenbuchverlags, auf rund 500. Aber es ist über die Jahrzehnte dennoch meine Ausgabe geblieben; ich besitze keine andere und habe auch kein Bedürfnis nach einer Neuanschaffung gehabt. Das liegt nicht allein an der tollen Umschlaggestaltung des legendären Celestino Piatti, die eine Romanszene zitiert und in ein ausdrucksstarkes Bild umsetzt. Es liegt wohl mehr an den Erinnerungen, die sich mit dem Buch und dem Roman verbinden. Zwei sind es vor allem, die immer gleich da sind.

Bekanntlich trügt nicht nur die Farbe der Erinnerung, sie ist auch häufig nicht faktensicher. Aus diesem Grund muss ich vorsichtig so beginnen: Ich glaube, es war im Wintersemester 1981/82, als ich eine Vorlesung zum Roman der Weimarer Republik besuchte. Wenn dem so war, so befand ich mich im dritten Semester. Wie üblich gab es eine Leseliste mit den Romanen, die in der Vorlesung im Zentrum stehen sollten, sowie einer Übersicht über grundlegende Sekundärliteratur. Bis vor kurzem, als mir diese Liste durch Zufall wieder in die Hände fiel, wusste ich nicht, dass ich sie noch besaß. Ein DIN A5-Blatt, eng beschrieben; es fehlt darauf der Semestervermerk. Aber der obere Rand war irgendwann einmal offensichtlich mit einer Schere oder einem ähnlichen Werkzeug traktiert worden, so dass ich zwar Schwarz auf Weiß habe, welche Romane gelesen wurden, für den genauen Zeitpunkt aber keine Gewähr.

Folgende Romane wurden genannt: Thomas Manns Der Zauberberg, Erich Kästners Fabian, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, Hermann Brochs Die Schlafwandler, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und eben, aus Gründen der Chronologie zuerst aufgeführt, Heinrich Manns Der Untertan. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinen der genannten Romane gelesen, aber ich war beseelt zu dieser Zeit – ich weiß, ein altertümliches Verb, aber anders kann ich diesen Zustand kaum beschreiben – ich war also beseelt von einem ungeheuren Leserausch und wollte die literarischen Texte, zu denen ich Studienveranstaltungen besuchte, auch gelesen haben. Man muss dazu sagen, dass an diese Vorlesungen keinerlei Prüfungsnachweise geknüpft waren; ein Zustand, von dem heutige Bachelor- und Masterstudenten wohl annehmen müssen, er sei erfunden. Ist er nicht! Man besuchte die Vorlesung, weil man sich für die Sachverhalte interessierte, nicht um irgendwelche Creditpoints zu erhalten. Vollkommen frei von jeder Art von Prüfungsdruck konnte ich also lesen. Aber: nein, es ist mir nicht gelungen, alle Romane gelesen zu haben. Brochs Schlafwandler blieben auf der Strecke (und sind es bis heute geblieben).

Fragt man jedoch umgekehrt, welcher der verbliebenen und gelesenen Romane Bestand hat bis heute, und zwar nicht weil er literaturgeschichtlich bedeutsam ist, sondern weil er mich als Person angesprochen hat, weil ich deutlich gespürt habe, dass er etwas mit mir gemacht hat, mir etwas anderes abgefordert hat als analytisches Lesen aus einem sich entwickelnden literaturwissenschaftlichen Interesse heraus, dann ist es weit vor allen anderen Der Untertan.

Warum ist das so?

Bevor ich dazu komme, muss die andere Erinnerung vergegenwärtigt werden, die auch gleich präsent ist, wenn es um den Roman geht. Ein Nachdenken über den Untertan ist kaum möglich, ohne dass die Bilder der Schlusssequenz aus Wolfgang Staudtes DEFA-Verfilmung aus dem Jahr 1951 hochkommen. Diederich Heßling hat sein Ziel erreicht. Statt das Geld des verstorbenen Fabrikanten Kühnemann für den Bau eines städtischen Säuglingsheims einzusetzen, gelingt es ihm, die Mehrheit der Stadthonoratioren für den Bau eines Kaiser-Wilhelm-Denkmals zu gewinnen. Bei dessen Enthüllung hält er die Festrede. Es zieht, wie im Roman auch, ein Unwetter auf, das schließlich alle Gäste vom Festplatz vertreibt. Als letzter steht da nur noch Heßling in tiefer Verbeugung vor dem Denkmal. Dann schwarzer Rauch. Eine Toncollage, unter anderem aus „Lieb Vaterland“ und der NS-Wochenschau-Fanfare, leitet über eine Schwarzblende in die letzte Einstellung. Begleitet von wiederholten Auszügen aus Heßlings Rede sowie einem Erzählerkommentar aus dem Off, sieht man den Festplatz in Trümmern, wie nach einem Bombenangriff. Alles zerstört. Menschen versuchen mühselig die Schuttberge zu beseitigen. Nur das Denkmal steht noch.

Staudtes Absicht ist erkennbar, zeithistorisch und sicherlich auch tagespolitisch verständlich, legitim allemal. Staudte zeigt den Untertan Diederich Heßling als Präfaschisten, dessen Gesinnung den Nationalsozialismus vorbereitet und die Zerstörungskatastrophe verursacht hat, dessen Schoß, glaubt man der Stimme aus dem Off, über die Trümmer hinweg immer noch fruchtbar ist. Staudte bezahlt für diese Lesart allerdings einen Preis. Er schaut vom wilhelminischen Netzig aus, dieser Kleinstadt, in der Heßling sein Unwesen treibt, in die historische Zukunft, in ein Morgen, das sich genauso ereignet hat wie es die geifernden Reden gefordert haben.

Der Roman hat so viel Didaktik nicht nötig. Es ist nicht der Umstand, dass der 1918 veröffentlichte Roman natürlich nicht auf die NS-Zeit schauen und sie reflektieren konnte. Es ist die grundsätzliche Blickrichtung, die ihn vom Film unterscheidet. Das Unwetter gibt es, wie gesagt, auch hier; es hat dem Film zur Vorlage gedient. Aber es wird inszeniert als Endzeitszenario, als Auftritt der apokalyptischen Reiter, die, wie es heißt, „ein Manöver abgehalten“ haben für „den Jüngsten Tag“.  Doch damit endet es nicht. Heßling begibt sich völlig durchnäßt auf den Weg nach Hause, sieht aber an dem Haus, das sein einst größter und mittlerweile verarmter Widersacher, der alte Buck, bewohnt, merkwürdige Aktivitäten. Er schleicht sich hinein und wird Zeuge vom Ableben des alten Mannes, dieses liberalen Stadtpatriziers, der 1848 beim gescheiterten Revolutionsversuch selbst noch auf den Barrikaden gestanden hatte, mit dessen Tod dieses gesamte Lebenskonzept zu Ende geht, zukunftslos. Niemand bemerkt Heßling, außer der alte Buck in seinem letzten Atemzug. „Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!“, so heißt es entsetzt, ohne dass die Anwesenden ahnen, wen er gesehen hat. Der letzte Satz des Romans dann: „Diederich war schon entwichen.“ Heinrich Mann inszeniert also nicht die kommende Katastrophe, sondern den Untergang des Liberalismus. Und er inszeniert es als … ja nicht einmal als Gottesgericht. So schrecklich sich die Apokalypse aufführt, am Ende dieser Denkfigur ereignet sich Erlösung im neuen Jerusalem. Hier nicht; die apokalyptischen Reiter sind weitergezogen. Was bleibt ist schlimmer, es ist des Teufels.

Hier nun finde ich vielleicht eine Antwort auf die oben gestellte Frage. Warum ist es gerade dieser Roman, der geblieben ist?

Man darf eines sicherlich nicht unterschlagen: Der Untertan ist neben Kästners Fabian vielleicht der eingängigste Roman, den ich in der Vorlesung kennenlernen durfte, ein Roman, der sich nicht sperrt, erst recht nicht dem gerade Zwanzigjährigen. Er ist von einer ungeheuren satirischen Zuspitzung und Schärfe. Das ist, was nicht vergessen werden soll, höchst vergnüglich zu lesen, damals wie heute.

Dieser Diederich Heßling, der „ein weiches Kind“ gewesen sein soll, der „viel an den Ohren litt“, wird zum Duckmäuser erzogen. Er lernt schnell, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten.  Man kann ihn als Fleisch gewordenes Untertanendenken seiner Zeit, als Prototypen des autoritären Großbürgers charakterisieren. Doch dann ist er zugleich ein armes Schwein, ein bloßes Produkt der Verhältnisse, fast schon bemitleidenswert. Man steckt ihn auf diese Weise in die Schublade, auf der außen das Schildchen „Wilhelminismus“ steht, und ist mit ihm fertig.

Dabei ist, so steht zu fürchten, Heßling ein ganz moderner Mensch. Sein Werdegang vom geprügelten Kind zum studentischen Burschenschaftler, vom gewieften Drückeberger und Beinahe-Bankrotteur zum wohlhabenden Fabrikbesitzer und Mitglied er Honoratiorenschaft zeigt die ausgesprochene Anpassungsfähigkeit dieses Mannes. Er hat ein immenses Selbstvertrauen, kennt seine Ziele, hat eine große Entschlusskraft, kann Rückschläge und auch Demütigungen wegstecken, ist also in besonderem Maße resilient, ist flexibel und zugleich werte- und normenorientiert (welche das sind, ist egal; man ist ja tolerant). All das bezeichnet man heutzutage als Selbstkompetenz, und die steht ungeheuer hoch im Kurs.

Er ist zudem wahnsinnig gut vernetzt. Man muss nur daran erinnern, wie es ihm gelingt, sich aufgrund seiner burschenschaftlichen Verbindungen vor dem Wehrdienst zu drücken oder wie er Geschäftsbeziehungen aufbaut und pflegt. Dass er zu diesem Zweck auch seine beiden Schwestern instrumentalisiert, dass er selbst seine Frau nach ökonomischen Erwägung auswählt … Aber, mein Gott, wer will ihm das verdenken. Der hat es halt drauf. Selbstkompetenz! Diederich Heßling 2.0, 3.0, x.0. Solche Leute haben heute das Zeug zum Mr. President.

Dieser Heßling ist moderner als er ausschaut, viel moderner. Und weil er das ist, ist er der Teufel, der entweicht und zugleich bleibt. Er hat nichts Metaphysisches, er ist ganz diesseitig. Bannen lässt er sich nur dann, wenn man sich seiner bewusst wird, z.B. dadurch, dass man den Untertan liest.

Peter Peters
http://www.peter-liest.de/


Bild zum Download: Skulptur

 

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

7 Gedanken zu „#MeinKlassiker (8): Der Untertan, zum Zweiten“

  1. Diese Thematik ist wirklich immer noch sehr aktuell. In der Tat erinnere ich mich oft an dieses Thema mit dem „Radfahrprinzip“ (man merkt, ich musste es in der Schule lesen). Und eigentlich mag ich dieses Buch überhaupt nicht. Aber Diederich ist auch nicht da, um ihn zu mögen.

    1. Eben: Der Diederich ist nicht da, um ihn zu mögen – gut gesagt. Aber es ist gut, dass er da ist: Damit man weiß, wie solche „Karrieren“ zustande kommen können. Und damit man, auch und gerade heute wieder, gut hinschaut.

  2. Die Lektüre liegt weit zurück, hinterließ gleichwohl einen Eindruck der Entstehungszeit. Ein Zitat meine ich aus der vergangenen Lektüre zu erinnern: „Ich habe eine Strafe verdient. Ich bitte um eine solche.“

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