#MeinKlassiker (7): Der Untertan, zum Ersten

„Der Untertan“ zeigt auch, wie und woran eine Gesellschaft scheitert. Meint Jörg Mielczarek, Verleger, Autor und Kenner der Literatur der Weimarer Republik.

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Bild von Jacques GAIMARD auf Pixabay

Wenn man verschiedene Autorinnen und Autoren nach ihrem besonderen Klassiker fragt, dann kann es auch zu Doppelnennungen kommen – so ist es mit „Der Untertan“ von Heinrich Mann geschehen. Beide Autoren waren einverstanden, dass es zwei Beiträge zu diesem wichtigen Roman der Weimarer Republik geben kann – für die Leser ist es vielleicht auch spannend zu sehen, wie unterschiedlich die Zugänge sein können.

Heute schreibt Jörg Mielczarek: Jörg ist ein profunder Kenner der Literatur der Weimarer Republik – ihr gilt seine ganze Leserleidenschaft. Unter dem Titel „Von Untertanen, Zauberbergen, Menschen ohne Eigenschaften“ veröffentlichte er ein Buch, das anhand seiner literarischen Reisen informativ und lebendig aufzeigt, was diese Literaturepoche ausmacht.

Aber lassen wir ihn nun zu Wort kommen:

Wenn sich Geist und Moral, Recht und Anstand in ihr Gegenteil verkehren und jeder Versuch misslingt, humanistisches Denken und Handeln durchzusetzen, ist eine Gesellschaft gescheitert.

Das zeigt sich in Heinrich Manns „Der Untertan“. An dem Roman hat Mann Jahre gearbeitet: „Den Roman des bürgerlichen Deutschen unter der Regierung Wilhelms II dokumentierte ich seit 1906. Ich brauchte sechs Jahre immer stärkerer Erlebnisse, dann war ich reif für den ,Untertan´“, schreibt er in seinen autobiographischen Mitteilungen.  Obwohl kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs im Juli 1914 fertiggestellt — und größtenteils als Vorabdruck in der Zeitschrift Zeit im Bild erschienen (der Beginn des 1. Weltkriegs verhinderte den kompletten Abdruck des Werkes – der Krieg, der im Roman als unausweichlich erscheint), 1916 vom Verleger Kurt Wolff privat in einer Auflage von mindestens 10 Exemplaren gedruckt — konnte die reguläre Buchausgabe des Untertans erst im Dezember 1918, nach Aufhebung der Zensur, erscheinen, und wurde umgehend ein großer Erfolg: Innerhalb von sechs Wochen konnten 100.000 Exemplare verkauft werden. So avancierte der Roman zum ersten Bestseller der jungen Republik.

Die satirische Entlarvung des kaiserlichen Untertans bildet den ideellen Mittelpunkt von Manns Werk. Feige Kriecherei gegenüber allem Mächtigen und Starken, unerbittliche Brutalität gegenüber Schwächeren und Untergebenen; so kann man sich eine Teilnahme an der Macht sichern. „Wer treten wollte, mußte sich treten lassen, das war das eherne Gesetz der Macht.“ Diederich Heßling ist „Der Untertan“.

Mit Diederich enthüllt Mann „die Vorgestalt des Nazi“ (Originalton des Autors), bereits als Schüler zeigt Heßling Eigenschaften, die Kennzeichen des nationalsozialistischen Deutschland werden sollten; Diederich quält einen jüdischen Mitschüler und erlangt das Wohlwollen seiner Lehrer. „Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überwältigende Mehrheit drinnen und draußen. Denn durch ihn handelte die Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Selbstbewusstsein, das kollektiv war!“

Eine weitere Schlüsselszene: Heßlings wollüstiges Erschauern, als ein Arbeiter grundlos von einem Soldaten erschossen wird: „Für mich hat der Vorgang etwas direkt Großartiges, sozusagen Majestätisches.“ 

Mit „Der Untertan“ ist Heinrich Mann ein großer Wurf gelungen; eine wunderbare Darstellung der wilhelminischen Zeit, eine auf den Punkt gebrachte Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Deutschland in den Ersten Weltkrieg führten.

Wenn ich heute Manns Buch aus dem Regal ziehe, stellt sich mir eine Frage: Wo ist der Gegenwartsautor, der die gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme literarisch aufarbeitet?

Jörg Mielczarek
https://literaturweimar.blog/

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

23 Gedanken zu „#MeinKlassiker (7): Der Untertan, zum Ersten“

  1. Unsere Gesellschaft ist entgleist. Wie damals. Ich wünsche mir ebenfalls Autoren, die sich in ihren Werken politisch und gesellschaftskritisch äußern. Wie Mann, Tucholsky, oder auch ein Günther Grass. Vielleicht ist Juli Zeh mit ihrer Utopie in Unterleuten, eine der wenigen Autoren der deutschsprachigen Gegendwartsliteratur, die sich traut. Ich finde diesen Beitrag hier großartig. Vielleicht sollte ich „Der Untertan“ lesen, um anschließend mit Jörg Mielczarek durch die Literatur der Weimarer Republik reisen.

    Lieben Gruß,
    Tanja

  2. Mit dem „Untertan“ hatte ich seit der Schulzeit Probleme. Ich kapierte die Essenz, verstand den Zweck, war begeistert von der Sprache, fasziniert von der Entlarvung eines ganzen Systems – aber ich mochte das Buch nicht. Vielleicht kann und soll man’s ja auch nicht mögen. Dennoch ist eine Literatur, die mir nur Unsympathen vor die Nase setzt, für mich grenzwertig. Mein Klassiker von Heinrich Mann wären die beiden großartigen, mitreißenden und die Welt des Exils in den 30ern historisch unglaublich widerspiegelnden Bände um Henri IV.

    1. Ich mochte und mag dieses Buch – trotz der unsympathischen Hauptfigur: Aber solche Typen gibt es. Und gerade daher empfinde ich den Untertan auch als ein sehr wichtiges Buch, beschreibt es doch bestimmte Strukturen, Mechanismen, denen man gegenüber wach sein muss.

  3. Die Gegenwartsautoren, die sich mit den heutigen Problemen beschäftigen gibt es in dem Sinne, dass sie sich eines der vielen globalen Probleme herauspicken … und dieses bis ins kleinste sezieren. Privatheit ist das Schlüsselwort hier für mich. Ich glaube, weil alles so komplex und unüberschaubar ist, gehen die Autoren immer mehr auf das Private – siehe z. Bsp. Navid Kermani in Sozusagen Paris oder Kristine Bilkau in Die Glücklichen – und versuchen am Mikrokosmos das große Ganze zu beschreiben. Das funktioniert nur leider nicht so gut. Es wird – zumindest für mich persönlich – zu kleinteilig und damit zu schwammig 😉 Ich bin gespannt, ob es bald mal wieder einen gesellschafts-politisch so pointierten Roman geben wird wie den Untertan – auch ich würde es mir wünschen. LG und danke für den wunderbaren Beitrag, Bri

    1. Liebe Bri, ja die deutsche Befindlichkeitsliteratur … ich tue mir da oft auch sehr schwer, vermisse die scharfen, wachen Autoren, wie sie es in der Weimarer Republik gab. Juli Zeh kommt dem schon nahe, aber viele fallen mir dazu leider auch nicht ein.

  4. „Diedrich Häßling war ein weiches Kind, ….das viel an den Ohren litt…“ Literatur geht ja manchmal seltsame Wege. Mehr noch als die profunde Faschismuskritik Manns ist mir dieser prägnante erste Satz des Untertans in Erinnerung geblieben – und in vielen durchwachten Nächten mit meinen ohrenkranken Kindern durch den malträtierten Kopf gegangen 🙂

  5. Ich weiß, dass wir in der Schule über das Buch gesprochen haben, habe aber keine Erinnerung daran, es komplett gelesen zu haben. Vielleicht ist das damals in den Wirren des Mauerfalls untergegangen, weil sich die Lehrer nicht mehr so sicher waren, welchem Bildungsplan sie nun Untertan sein sollten. Aber angesichts der heutigen Wirren, die mich jeden Tag aufs Neue bestürzen, werde ich das nachholen.

    Liebe Birgit, eine schöne neue Serie, durch die ich mich mal nach und nach durcharbeiten werde. 🙂

    1. Liebe Peggy, deine Anmerkung ist gut: Den der Untertan ist natürlich auch „heißer“ Stoff in den Schulen. Da hatte man evt. zu bestimmten Zeiten wirklich Schwierigkeiten mit Heinrich Mann – der im Westen weit weniger beliebt war als sein Bruder Thomas, aus politischen Gründen. Und wenn Du Dich durch die Reihe durchgelesen hast, dann bist du mit deinem Klassikerbeitrag dran 🙂

      1. Schon als ich Deine ersten Posts auf Facebook gesehen habe, kamen mir gleich ein, zwei Gedanken. 🙂 Aber wie Du wahrscheinlich schon bemerkt hast, ist die Zeit bei mir gerade mal wieder sehr knapp. Daher muss ich Dich vertrösten. Aber da Deine Serien – und diese besonders – einen gewissen Klassiker-Charakter haben, lässt sich das ja jederzeit nachholen. 🙂

  6. Das Buch habe ich in der Schule gelesen, offenbar viel zu früh, und fand es ganz schrecklich. Jahre später an der Uni hab ich es geliebt. Unaktuell kann dieser Roman eigentlich nie werden.

  7. Ganz sicher auch einer meiner Klassiker. Immer habe ich den Heinrich dem Thomas vorgezogen (außer vielleicht bei den Buddenbrooks). Aber seine Bücher sind spröder. Trotzdem hat der Untertan bis heute etwas zu sagen. Ich freue mich schon auf den zweiten Beitag.

  8. Die Lektüre liegt weit zurück, hinterließ gleichwohl einen Eindruck der Entstehungszeit. Ein Zitat meine ich aus der vergangenen Lektüre zu erinnern: „Ich habe eine Strafe verdient. Ich bitte um eine solche.“

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