Michael Ondaatje: Der englische Patient

Liebesreigen der Literatur (2): Frank Duwald in seiner Kolumne über einen Roman voller poetisiertem Realismus und eine vergangene, rauschhafte Liebe.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Ein Gastbeitrag von Frank Duwald

Michael Ondaatje ist schon so ein Fall für sich. Ich denke, er weiß ganz genau, dass er mit seiner Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie die Emotionsreichen unter seinen Lesern ziemlich weit an ihre Grenzen bringt. Denn, wenn es in weiten Teilen dieses Romans ein Defizit gibt, dann ist es das Fehlen spürbarer Gefühle der Protagonisten. Aber, das ist natürlich von ihm so gewollt, da der Situation geschuldet, in der die Charaktere sich befinden.

Die Situation ist Kriegsende 1945 und vier Traumatisierte, die in einer noch halbwegs intakten Villa in der Toskana gestrandet sind und dort, sich gegenseitig festhaltend, ihr inneres Exil suchen. Der englische Patient des Titels ist am ganzen Körper verbrannt und nicht mehr viel mehr als ein grotesk verkohltes Wesen, von dem weitgehend nur noch die Stimme zu funktionieren scheint. Gepflegt wird er von der jungen Kriegskrankenschwester Hana, die der ein oder andere möglicherweise, genauso wie den onkelhaften Meisterdieb Caravaggio, schon aus Ondaatjes Vorgängerroman In der Haut eines Löwen kennt (den man aber wirklich nicht zwingend kennen muss, um Der englische Patient genießen zu können). Der vierte Besucher ist der Inder Kip, mit dem Hana eine verhaltene Beziehung beginnt, anfangs mehr Trostsuche und ein erstes wieder erwachendes Bedürfnis nach menschlicher Nähe. Diese Nähe zu definieren, fällt allen vieren schwer, haben sie doch einfach zu viele Tote in ihrer Vergangenheit gesehen, zu viele geliebte Menschen verloren.

Poetischer Realismus

Michael Ondaatje hat eine ganz eigene Methode zu erzählen. Das, was er erschafft, ist eine Art poetisierter Realismus. Er erreicht das durch zahllose Bilder zwischen Schrecken und Schönheit: der englische Patient, wie er brennend vom Himmel stürzt; die minenverseuchte Traumverlorenheit der Villa und ihres wild wuchernden Gartens; todbringende Sandstürme und lebensrettende Oasen…; viel mehr als man hier aufzählen könnte. Das, was Ondaatje beschreibt, ist einschüchternd gut recherchiert. Solche Sequenzen, vom Bombenentschärfen bis zu Wüstenstürmen, sind mit packender Zielstrebigkeit in Szene gesetzt, ganz im Gegensatz zum Gesamtkunstwerk Der englische Patient, denn das ist ein einziger Flickenteppich aus wechselnden Zeitebenen, schwankenden Zeitformen, Textscherben, die sich erst am Ende zu etwas Gesamtem zusammenschmiegen. Da kommen interessante Effekte zusammen. So, beispielsweise, hin und wieder ohne Anführungszeichen markierte wörtliche Rede, die den Stimmen etwas Geisterhaftes geben. Und irgendwie sind sie das auch alle: Geister, nur noch durchscheinende übriggebliebene Fragmente der Persönlichkeiten, die sie einmal waren. Zu viel wurde ihnen allen genommen.

Eine Liebe wie im Rausch

Das mag aber auch der Grund sein, warum uns die Liebesgeschichte zwischen Hana und Kip nicht so recht berühren will, uns die beiden nicht so richtig nahe kommen wollen.
Ganz anders dagegen die rauschhafte Liebesbeziehung, die da plötzlich aus der Vergangenheit noch oben drängt. Diese Affäre des englischen Patienten aus der Zeit vor seiner fatalen Verwundung brennt vor Leidenschaft. Und ja, seine Liebhaberin Katherine Clifton, diese unberechenbare, faszinierende Schönheit, obgleich eine Nebendarstellerin, stiehlt den vier Protagonisten mit weitem Abstand die Show.

Aber, wie eingangs schon als Warnung und Ausblick an die emotional nicht ganz auf ihre Kosten gekommene Leserschaft formuliert, birgt das letzte Kapitel den Schlüssel zu Michael Ondaatjes Konzept der verletzten Seele, denn es gibt uns die erleichternde Offenlegung, in welchem Maße die so zarte und gebremste Liebesgeschichte Hanas und Kips einen unauslöschbaren Widerhall auf ihre beider zukünftige Leben haben wird.
Wir Leserinnen und Leser legen, nun wieder versöhnt, ein wunderbares, staunenswertes Buch nieder.

Zur Reihe:

Der Autor und Blogger Frank Duwald bespricht in dieser Reihe – “Liebesreigen der Literatur” – einige ausgewählte Romane.

Diese Bücher werden vorgestellt:

Jane Austen – Stolz und Vorurteil
Sylvia Brownrigg – Geschrieben für dich
F. Scott Fitzgerald – Der große Gatsby
Kazuo Ishiguro – Was vom Tage übrigblieb
Richard Lorenz – Frost, Erna Piaf und der Heilige
Michael Ondaatje – Der englische Patient

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

6 Gedanken zu „Michael Ondaatje: Der englische Patient“

  1. Es ist lange, lange her, daß ich diesen bemerkenswerten Roman gelesen habe. Doch diese einfühlsame Buchbesprechung hat ihn mir wieder ganz lebhaft in Erinnerung gebracht und führt mich in Versuchung, eine Relektüre vorzunehmen.

    Ich fand damals auch, daß die Gefühle der Romanfiguren ein wenig zu zurückhaltend – oder gewissermaßen schockgefrostet – sind, zugleich hat dieser Roman jedoch eine besondere psychische Tiefenschärfe und Vergänglichkeitspoesie, die ihn unvergeßlich macht.

    Ich danke herzlich fürs „Reanimieren“ … 🙂

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