Edward Lewis Wallant: Der Pfandleiher

Jahrzehnte hat es gedauert, bis dieser Roman ins Deutsche übersetzt wurde. In den USA hatte er dagegen bereits in der 1960ern eine große Debatte ausgelöst.

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Bild von Ryan McGuire auf Pixabay

„Eine Winzigkeit, er wußte noch nicht, was es wohl wäre, würde ihn an diesem Tag entzweibrechen, und die dunkle Kraft dieses Wachsen in ihm würde ungehindert hervorbrechen und sich ihm in der Sekunde, bevor sie ihn zerstörte, zu erkennen geben.

„Heute ist der Achtundzwanzigste … meine Jahrzeit, meine Jahrzeit“, sagte er, als er hinter dem Ladentisch stand und die Kante umklammerte, als böte sie ihm Halt gegen eine Riesenwelle. An diesem Tag vor fünfzehn Jahren war sein Herz atrophiert; wie das Mammut hatte auch er sich in Eis konserviert. Was fürchtete er also? Wenn das Eis irgendwann taut und das Fleisch des großen begrabenen Geschöpfs freilegt, verrottet es ganz einfach. Man kann nur einmal sterben. Gestorben war er schon längst, nur der Kadaver war noch zu beseitigen.“

Edward Lewis Wallant, „Der Pfandleiher“, OA 1961


Sol Nazerman ist ein Mammut, ein beinahe schon Gestorbener, dessen Lebendigkeit sich nur noch dadurch auszeichnet, dass er einem „von innerem Druck langsam berstenden Koloss“ gleicht. Tag für Tag wird der Betreiber eines Pfandleihhauses in Harlem mit dem Bodensatz der Gesellschaft konfrontiert: Junkies, Alkoholiker, Obdachlose, Huren, sitzengelassenen Jungfern. Doch den 45jährigen scheint auch das größte Elend kalt zu lassen, nichts rührt ihn noch in seiner Seele an. Die Menschen, die sich ihm annähern – sein Ladengehilfe, ein Neffe, eine überengagierte Sozialarbeiterin – stößt er brüsk vor den Kopf.

Misanthropie als Überlebensstrategie

Umso mehr man jedoch in die enge, düstere Welt dieses Pfandleihers eindringt, umso mehr man sich von der sanft-melancholischen Sprache Wallants einfangen lässt, desto deutlicher klarer kristallisiert sich heraus, dass die Misanthropie, die Gleichgültigkeit und Ablehnung, mit denen der Pfandleiher seinen Mitmenschen begegnet, dass dies seine Überlebens- oder vielmehr Weiterlebens-Strategie ist. Ein nur mühsam aufrecht zu haltendes Konstrukt, das durch einige, nicht einmal allzu gewaltige Anstöße von außen ins Wanken gerät.

„Sol Nazerman, dieser monolithische, unnahbare Mann, der mit dem Unglück und der Armut seiner Kunden Geschäfte macht, hat alles verloren: sein früheres Leben, seine Frau, seine Kinder, sein Mitleid oder besser: die Notwendigkeit, hohle Konventionen des Miteinanders zu erfüllen“, schrieb Ulrich Rüdenauer in seiner Rezension „Ein lebendiger Grabstein“ in der Süddeutschen Zeitung am 12. Feburar 2016. „Sol Nazerman hat die Shoah nicht überlebt, sie tötet ihn nur langsamer als die Menschen, die er in den Lagern hat sterben sehen.“

Verfilmung 1964 löste Holocaust-Debatte in den USA aus

Über fünf Jahrzehnte hat es gedauert, bis dieser Roman endlich ins Deutsche übersetzt wurde. Und das, obwohl das Buch, auch befeuert durch die gelungene Verfilmung, in den USA bereits 1964 eine breitere Auseinandersetzung über die Geschehnisse des Holocaust ausgelöst hatte.

Obwohl Nazerman an seinen Tagen die Welt von sich abhält und sich selber dieses glauben  macht –

„Er trauerte nicht, grämte sich nicht; alles Abstrakte in ihm war abgetötet. Die Wirklichkeit bestand aus der sichtbaren, riechbaren, hörbaren Welt. Kein Gedenken an niemanden, an nichts. Das war das Geheimnis seines Überlebens.“

– nachts holen ihn die Träume ein. Die Monster und Schrecken – der Hungertod im Lager, der Anblick seines wie Schlachtvieh aufgehängten Kindes, seiner vergewaltigten Frau, der Geruch von verbranntem Fleisch, das Gas in der Luft.

Schreiben über das Grauen der Konzentrationslager

Lassen sich die Grausamkeiten der Lager in der Literatur darstellen? Und welche Darstellung ist „erlaubt“ oder möglich, ohne eine gewisse Form des Voyeurismus hervorzurufen? Die Diskussion begann mit den ersten Werken über die Shoah und dauert seither an. Man könnte sagen Wallant, der als gebürtiger Amerikaner die KZ-Realität „nur“ aus Erzählungen kannte, bediente sich in diesem frühen Werk der Holocaust-Literatur eines erzählerischen Kunstgriffes: In die Welt der Träume und der Vergangenheit gerückt, gelingt eine gewisse Distanz zudem, was da in deutlicher Grausamkeit erzählt wird, ja auch erzählt werden muss. Wie tiefgehend diese Verletzungen jedoch sind, dies wird umso deutlicher an dem gebrochenen Menschen Sol Nazerman. Wie auch Ulrich Rüdenauer in seiner Rezension schrieb: So einen abweisenden, verletzten Menschen zur Hauptfigur zu machen, dazu gehört auch Mut.

Doch im Laufe des Buches weckt dieser Pfandleiher trotz seiner Misanthropie unser Mitgefühl und unsere Sympathie. Man beginnt, seinen kümmerlich dünnmanteligen Selbstschutz zu akzeptieren, man versteht seine Beweggründe. Und ahnt dabei doch: Es gibt Grausamkeiten, die übersteht kein Mensch unbeschadet.

Das Kommen und Gehen der Kunden, die familiären Szenen – Nazerman hält die zerstrittene Familie seiner Schwester sowohl finanziell als auch nervlich aus -, die Annäherung der naiv-drallen Jugendfürsorgerin, die Konfrontation mit dem Mafioso, der die Pfandleihe zur Geldwäsche unterhält  dies alles rüttelt mehr und mehr am Nervenkostüm des Protagonisten. Alles spitzt sich auf ein tragisches Ende hin zu – ob es für Nazerman selbst zur Katharsis wird, wer weiß?

Moloch New York als zentrale Figur

Neben seiner Stärke, mit wenigen Pinselstrichen quasi einprägsam Charaktere zu zeichnen, die auf der Bühne des Pfandleihhauses an- und abtreten, hatte Wallant auch ein Talent für die Beschreibung der Stadt und ihrer Straßen: In einigen Szenen wird er zur Hauptfigur, der staubige, hässliche, vermüllte Moloch New Yorks.

Die Traurigkeit und sanfte Schwermut dieses Romans ist eine zeitlose, die auch heute noch Leser anzusprechen vermag. Und Edward Lewis Wallant einer der großen Erzähler amerikanisch-jüdischer Herkunft, den es wieder zu entdecken gilt. Nur vier Romane konnte Wallant, der in der Werbung tätig gewesen war, vollenden, als ihn 1962, gerade einmal 36 Jahre alt, ein Gehirnschlag traf. Seine Wiederentdeckung heute ist jüngeren Schriftstellern wie Dave Eggers zu verdanken, die nimmermüde auf das schmale Werk Wallants aufmerksam machen. Eggers schrieb im Guardian:

„In the short time he was writing – about three years wherein he considered himself and was considered a serious writer – he was counted as part of a brilliant group of postwar Jewish American writers – Saul Bellow, Bernard Malamud, Norman Mailer and Philip Roth among them. That Wallant died so young, unable to travel on with these writers, is criminal, especially given how prolific he was. But the novels he finished in his short life are all miniature masterpieces. The Tenants of Moonbloom is a particularly lovely book, lightly comic, frequently melancholy, carrying about it the unmistakable air of allegory.“


 Bibliographische Angaben:

Edward Lewis Wallant
Der Pfandleiher
Übersetzt von Barbara Schaden
Berlin Verlag, 2015
ISBN 978-3827011831

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

9 Gedanken zu „Edward Lewis Wallant: Der Pfandleiher“

    1. Gerne. Beim Berlin Verlag ist bislang noch „Mr. Moonbloom“ in deutscher Übersetzung erschienen, über die zwei weiteren Bücher weiß ich nichts, die gibt es wahrscheinlich nur in englischer Sprache.

  1. „Sol Nazerman hat die Shoah nicht überlebt, sie tötet ihn nur langsamer als die Menschen, die er in den Lagern hat sterben sehen.“ Die Formulierung in der zitierten Besprechung finde ich bemerkenswert. Auch andere Autoren haben über das Konzentrationslager geschrieben, ohne es selbst erlebt zu haben, wie Erich-Maria Remarque in „Der Funke Leben“.

    Themenwechsel. Zum Pfandleiher war meine erste Assoziation das Lied von Reinhard Mey, „Ich wollte wie Orpheus singen“:

    „Meine Lyra trag‘ ich hin,
    bring sie ins Pfandleihhaus.
    Wenn ich wieder bei Kasse bin,
    lös‘ ich sie wieder aus.“

    1. Der Journalist beschreibt damit sehr gut, was ein Trauma mit einem Menschen machen kann, wenn er es nicht verarbeiten kann – Sterben auf Raten.
      Danke für das Mey-Zitat 🙂 Der Pfandleiher im Buch muss auch einige originelle Gegenstände entgegennehmen. Ursprünglich wollte ich für die Bebilderung eine Pfandleihe in Augsburg fotografieren, aber beim Bummel durch die Innenstadt habe ich keine gefunden. Ich glaube, das hatte in Deutschland nie große Tradition, oder täusche ich mich da?

  2. Liebe Birgit,

    Deiner Leseeinschätzung von Edward Lewis Wallant kann ich nur zustimmen.

    Der Autor malt mit seinen Sätzen erschütternde Bilder, mit denen uns die tiefe Qual, das untröstliche Leid und die Herzensvernichtung des Pfandleihers unter die Haut gehen. Mit dem Pfandleiher Sol Nazermann hat Edward Lewis Wallant eine literarische Figur erschaffen, die sich schmerzhaft-unvergeßlich ins Gedächtnis prägt.

    Die zwischenmenschliche Komplexität und die szenische Komposition der Romane von Edward Lewis Wallant habe ich bereits in meiner Rezension zu seinem Roman „Mr Moonbloom“ gelobt: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/02/20/mr-moonbloom/

    Auch im „Pfandleiher“ schafft es der Autor, einen Charakter mit ein oder zwei Sätzen von einprägsamer Tiefenschärfe und transparenter Menschenkenntnis auf den Punkt zu bringen:

    https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/01/13/der-pfandleiher/

    Auf die Übersetzung des dritten Edward Lewis Wallant warte ich schon leseinteressiert.

    Ich hoffe es ist in Ordnung, daß ich zwei Links zu meiner Webseite in meinen Kommentar eingefügt habe?
    Wenn nicht, kannst Du sie ja einfach entfernen …

    Bibliophile Grüße
    Ulrike von Leselebenszeichen

    1. Liebe Ulrike,
      ich bin ja begeistert, dass ich hier auf noch eine Wallant-Leserin und Anhängerin stoße – ich war ein wenig erstaunt, dass diese beiden Neuübersetzungen relativ wenig Resonanz fanden (in den Blogs). Ein großartiger Autor, der einprägsame Bilder zu malen weiß – mir gefielen auch die Beschreibungen der Stadt, wie ich schrieb, sehr gut. Und ja, Sol Nazerman bleibt unvergesslich – wie er versucht, diesen unfassbaren Schmerz fasst stoisch von sich wegzuhalten und wie er sich dann vor unseren Augen doch immer mehr und mehr auflöst. Eine sehr intensive Charakterstudie. Herzliche Grüße von Birgit

      1. Danke für Deine positive Resonanz!
        Ja, Wallant habe ich auch ganz still und leise für mich entdeckt, ohne von einer Rezension verführt worden zu sein.
        Seine Milieustudien und seine Großstadtimpressionen sind sehr stimmig und authentisch.
        Herzliche Grüße von Ulrike

  3. Vielen Dank für diese wunderbare Besprechung. Wird morgen bestellt und vielleicht darf ich einen Absatz aus deinem Text klauen um den Kunden das Buch schmackhaft zu machen? Liebe Grüße

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