Heinrich Heine – Das Hohelied

Dieses erotische Gedicht ließ Heinrich Heine 1854 im Deutschen Musenalmanach (4. Jahrgang) veröffentlichen.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Des Weibes Leib ist ein Gedicht,
Das Gott der Herr geschrieben
Ins große Stammbuch der Natur,
Als ihn der Geist getrieben.

Ja, günstig war die Stunde ihm,
Der Gott war hoch begeistert;
Er hat den spröden, rebellischen Stoff
Ganz künstlerisch bemeistert.

Fürwahr, der Leib des Weibes ist
Das Hohelied der Lieder;
Gar wunderbare Strophen sind
Die schlanken, weißen Glieder.

O, welche göttliche Idee
Ist dieser Hals, der blanke,
Worauf sich wiegt der kleine Kopf,
Der lockige Hauptgedanke!

Der Brüstchen Rosenknospen sind
Epigrammatisch gefeilet;
Unsäglich entzückend ist die Zäsur,
Die streng den Busen teilet.

Den plastischen Schöpfer offenbart
Der Hüften Parallele;
Der Zwischensatz mit dem Feigenblatt
Ist auch eine schöne Stelle.

Das ist kein abstraktes Begriffspoem!
Das Lied hat Fleisch und Rippen,
Hat Hand und Fuß; es lacht und küßt
Mit schöngereimten Lippen.

Hier atmet wahre Poesie!
Anmut in jeder Wendung!
Und auf der Stirne trägt das Lied
Den Stempel der Vollendung.

Lobsingen will ich dir, o Herr,
Und dich im Staub anbeten!
Wir sind nur Stümper gegen dich,
Den himmlischen Poeten.

Versenken will ich mich, o Herr,
In deines Liedes Prächten;
Ich widme seinem Studium
Den Tag mitsamt den Nächten.

Ja, Tag und Nacht studier ich dran,
Will keine Zeit verlieren;
Die Beine werden mir so dünn –
Das kommt vom vielen Studieren.

Heinrich Heine

Dieses erotische Gedicht ließ Heinrich Heine 1854 im Deutschen Musenalmanach (4. Jahrgang) veröffentlichen, mit dem Schreiben daran begann er bereits in frühen Jahren, vollendete es jedoch erst in seiner Pariser Zeit.
Heine und Paris: Auch zu dieser Stadt verband ihn eine besondere Liebe. Wunderbar nachzulesen auf diesem Blog für alle Frankophilen.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

4 Gedanken zu „Heinrich Heine – Das Hohelied“

  1. Sue, in Jude the Obscure von Thomas Hardy, würde dieses Heine Gedicht bestimmt viel besser gefallen als die Kommentare der Kirchenväter zum Hohenlied, über die sie sich mächtig im Roman ärgert. Sue und Henry/Heinrich würden sich auch wunderbar im Spotten verstehen.

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