Literarische Orte: Hier kam Hermann Hesse unters Rad

Hermann Hesse kommt als 14jähriger in das evangelisch-theologische Seminar in Kloster Maulbronn. Diese Zeit verarbeitet er im Roman „Unterm Rad“.

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„Im Nordwesten des Landes liegt zwischen waldigen Hügeln und kleinen stillen Seen das große Zisterzienserkloster Maulbronn. Weitläufig, fest und wohl erhalten stehen die schönen alten Bauten und wären ein verlockender Wohnsitz, denn sie sind prächtig, von innen und außen, und sind in den Jahrhunderten mit ihrer ruhig schönen, grünen Umgebung innig zusammengewachsen. Wer das Kloster besuchen will, tritt durch ein malerisches, die hohe Mauer öffnendes Tor auf einen weiten und sehr stillen Platz.“

Im Herrenrefektorium

„Ein Brunnen läuft dort, und es stehen alte ernste Bäume da und zu beiden Seiten alte steinerne und feste Häuser und im Hintergrunde die Stirnseite der Hauptkirche mit einer spätromanischen Vorhalle, Paradies genannt, von einer graziösen, entzückenden Schönheit ohnegleichen. Auf dem mächtigen Dach der Kirche reitet ein nadelspitzes, humoristisches Türmchen, von dem man nicht begreift, wie es eine Glocke tragen soll. Der unversehrte Kreuzgang, selber ein schönes Werk, enthält als Kleinod, eine köstliche Brunnenkapelle; das Herrenrefektorium mit kräftig edlem Kreuzgewölbe, weiter Oratorium, Parlatorium, Laienrefektorium, Abtwohnung und zwei Kirchen schließen sich massig aneinander. Malerische Mauern, Erker, Tore, Gärtchen, eine Mühle, Wohnhäuser umkränzen behaglich und heiter die wuchtigen alten Bauwerke. Der weite Vorplatz liegt still und leer und spielt im Schlaf mit dem Schatten seiner Bäume…“

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Bild von Th G auf Pixabay

Zitate aus „Unterm Rad“

So idyllisch, wie Hermann Hesse Kloster Maulbronn in „Unterm Rad“ (die beiden einführenden Zitate sind aus diesem Roman) schildert, so ist es auch immer noch – auch wenn der Komplex, der seit 1993 zum Weltkulturerbe gehört, anders als zu Hesses Zeiten, inzwischen vermehrt Touristen anlockt. Das alte Gemäuer, der weite Platz – sie strömen nach wie vor eine Ruhe aus, die sich auch auf die Grüppchen, die durch das Kloster und das Gelände schlendern, überträgt.

Trotz der Spiritualität und Schönheit, die den Ort prägt – Hermann Hesse erlebte hier keine gute Zeit. Der im nahegelegenen Calw geborene Sohn eines evangelischen Missionars wird als 14jähriger in das evangelisch-theologische Seminar (das übrigens bis heute existiert) in Kloster Maulbronn gebracht. Die geistige Enge der Lehrer, seine Suche nach Gleichgesinnten unter den Seminaristen, die Verlassenheit und Verlorenheit, die den sensiblen Jungen plagt – dies alles verarbeitet Hermann Hesse später (1906) in dem Roman „Unterm Rad“.

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„Seit langer Zeit hat man dieses herrliche, weltfern gelegene, hinter Hügeln und Wäldern verborgene Kloster den Schülern des protestantisch-theologischen Seminars eingeräumt, damit Schönheit und Ruhe die jungen Gemüter umgebe. Zugleich sind dort die jungen Leute den zerstreuenden Einflüssen der Städte und des Familienlebens entzogen und bleiben vor dem schädigenden Anblick des tätigen Lebens bewahrt.“

Hesse flieht aus dem Seminar

Hesse flieht im März 1892 aus dem Seminar, kehrt kurz zurück und muss es dann wegen seiner anhaltenden depressiven und aggressiven Stimmungen im Mai 1892 endgültig verlassen. Kurz darauf unternimmt Hermann Hesse einen Suizidversuch und wird in eine Nervenheilanstalt verbracht.

Sein enger Freund Hugo Ball schreibt in der Biographie „“Hermann Hesse – Sein Leben und sein Werk“, die 1927 erschien:

„Wenn es (…) nun in Hesses Leben einen Haupt- und Generalpunkt gibt, den der Dichter noch nicht erschöpft und aufgelöst hat; wo dem Biographen noch etwas zu sagen bleibt, so ist es diejenige Zeitspanne, zu deren Beschreibung ich jetzt komme: die Zeit der Berufswahl und der anschließenden Wirren; die Zeit der Gärung und der Loslösung vom Vaterhaus, und mit einem Worte: Maulbronn (…). Die Darstellung des Landexamens und der Seminaristenzeit in „Unterm Rad“ ist lebensgetreu. Nur heißt der Vater Joseph Giebenrath und ist nicht Missionsprediger, sondern Zwischenhändler und Agent. Nur ist das Erlebnis in einer Art Spaltung der Persönlichkeit, die auch sonst in Hesses Büchern, so im „Lauscher“, im „Demian“, in „Klein und Wagner“ hervortritt, an zwei Freundesgestalten verteilt. Die Flucht des Hermann Heilner aus Maulbronn ist des Dichters eigene Flucht aus dem Seminar. Aber auch die seelischen Wirrnisse und Leiden des zurückbleibenden Hans Giebenrath sind diejenigen des Dichters.“

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Bild von Erich Westendarp auf Pixabay

Im eigenen Lebenslauf

In seinem „Kurzgefaßten Lebenslauf“ sagt Hermann Hesse 1925 über diese Wirrnisse:

„Von meinem dreizehnten Jahr an war mir das eine klar, daß ich entweder ein Dichter oder gar nichts werden wolle. Zu dieser Klarheit kam aber allmählich eine andere peinliche Einsicht. Man konnte Lehrer, Pfarrer, Arzt, Handwerker, Kaufmann, Postbeamter werden, auch Musiker, auch Maler oder Architekt, zu allen Berufen der Welt gab es einen Weg, gab es Vorbedingungen, gab es eine Schule, einen Unterricht für den Anfänger. Bloß für den Dichter gab es das nicht! Es war erlaubt und galt sogar für eine Ehre, ein Dichter zu sein. Ein Dichter zu werden aber, das war unmöglich; es werden zu wollen, war eine Lächerlichkeit und Schande, wie ich sehr bald erfuhr.“

Dieses Wissen, in Maulbronn auf ein „falsches“ Leben vorbereitet zu werden, der Druck, die Erwartungen der Familie und der Lehrer zu erfüllen, dies alles führte zum Zusammenbruch. Dass Hesse schließlich aus diesem Dilemma herausfand, dafür können wir Leser heute dankbar sein.

Seine Erinnerungen an die Maulbronner Zeit verarbeitete er später in einem melancholisch-versöhnlichem Gedicht (Auszug):

„Im Maulbronner Kreuzgang“

Und alles ist so schön und still geblieben.
Nur ich ward älter, und die Leidenschaft,
Der Seele dunkler Quell in Haß und Lieben,
Strömt nicht mehr in der alten wilden Kraft.

Hier ward mein erster Jugendtraum zunichte.
An schlecht verheilter Wunde litt ich lang.
Nun liegt er fern und ward zum Traumgesichte
Und wird in guter Stunde zum Gesang.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

41 Gedanken zu „Literarische Orte: Hier kam Hermann Hesse unters Rad“

  1. Da war ich auch schon, „Unterm Rad“ hab ich gelesen, ansonsten bin ich kein so besonderer Hesse-Fan, die Jugendintialbewunderung ist an mir vorbeigegangen, obwohl ich mal „Hesse auf Facebook“ im Schrank gefunden aber noch nicht gelesen habe

      1. Genau, deshalb sammle ich auch was ich so in den Schränken finde und werde das „Glasperlenspiel“ oder „Siddhartha“ auch demnächst lesen

  2. Liebe Birgit, die Fotos lassen mein Kunsthistorikerin- Herz höher schlagen 🙂
    Und Hesse ist so oder so einer meiner liebsten Autoren.
    Grüße aus dem schon jetzt zu heißen Berlin, Susanne

    1. Liebe Susanne,
      wenn Du mal Gelegenheit hast, besuche das Kloster – es ist wirklich ein wunderschöner Ort. Und wir hatten Glück: Wegen der Hitze waren kaum Besucher dort, so hatte das auch mal einen Vorteil. Heute aber freue ich mich hier mal über gemäßigte Temperaturen…das tut richtig gut.
      Maulbronn liegt unweit von Stuttgart und Karlsruhe, bietet sich also mal für euch Berliner durchaus für einen Kurztrip an….Liebe Grüße, Birgit

      1. Liebe Birgit, für ein Kurztrip per Auto, viel zu weit, sagt mein Freund auf meine Frage, ob wir mal nach Stuttgart wollen 🙂 es sind 650 km —- für Wochenendfahrten nehmen wir uns nicht mehr als 200 km von Berlin entfernt vor. Alles andere ist Streß. Aber vielleicht bin ich ja mal zufällig in der Nähe von Stuttgart, dann, dann behalte ich das Kloster im Kopf!
        Heute ist es in Berlin wieder sehr heiß und nicht einmal der Abend bringt Erleichterung. Ich werde jetzt auch langsam Schluß machen mit dem Computern ….. lg und einen schönen weiteren Urlaub von Susanne

      2. Liebe Susanne, na dann hoffe ich, dass Euch mal ein längerer Urlaub in den Süden führt – für Kunsthistoriker gibt es da viel zu entdecken 🙂
        Liebe Grüße, Birgit

  3. Hat dies auf wandernd rebloggt und kommentierte:
    Wieder mal ein schöner Beitrag auf Sätze & Schätze über Hermann Hesses Zeit im Kloster Maulbronn mit einigen wunderschönen Bildern.

  4. Ha, des isch doch amal a netts Posting und erinnera tuts mi an mei oigana Jugend im Schwobaländle als Evangelische unter denne Katholika. Maulbronn hann i amal mit meina Oma ogschaut. Lang ischts fei scho her. Deshalb bedank i mi recht herzlich au für die schene Bilderla und denn Beitrag zum Hesse mit dem i den Weg zurr Literatur gfunda hob damals als Schülerin.

    1. Oh, i hans mit meiner Oma bloaß bis Blaubeura gschafft ins Kloschder, ond doa war literarisch halt dr Mörike wichtig…so ka`s geha. Abr es freit mi sehr, wenn dir des gfalla hoat it Maulbronn und erinnerunga gweckt hoat.

  5. Sehr schön, liebe Birgit, dass Du mit diesem wundervoll geschriebenen Beitrag und den zahlreichen Fotos ein richtiges Kleinod unter die Leserschaft trägst. Maulbronn habe ich schon mehrere Male besucht, ebenso Knittlingen und Calw – alles wirklich lohnenswerte Reiseziele und für eingefleischte Freunde Hermann Hesses meines Erachtens fast unumgänglich.

    Herzlich Constanze

  6. Das sieht alles so idyllisch aus … kaum zu glauben, dass dahinter solch eine schlimme Zeit für hesse stecken konnte .. .aber klar, die Zeiten waren auch andere und was wir heute in der Rückschau als idyllisch betrachten war damals harte Realität …

    1. Liebe Bri,
      das Gebäude an sich ist idyllisch – und wäre es für einen außenstehenden Besucher vielleicht auch vor 100 Jahren gewesen. Aber, wie Du schreibst, die Realität – für Hesse, aber auch die anderen Klosterschüler – war eben nicht danach, das Kloster sicher auch mit einem streng-puritanischen Geist gefüllt. Wenn man alleine liest, was die Klosterschüler zu essen bekamen…da hungerte nicht nur der Geist…

      1. Dann gilt nur zu hoffen, dass die heutigen Gymnasiasten und Internatsschüler nicht so hungern müssen … weder im Geiste noch materiell …Unterm Rad allerdings finde ich nach wie vor äußerst beeindruckend … wenn auch bedrückend.

      2. Übrigens griff er Maulbronn ja auch in Narziß und Goldmund nochmals auf – die Lektüre ist aber schon lange her, muss ich nochmals auffrischen.

      3. Das ist zugegebenermaßen eines der Werke, das ich noch nicht gelesen habe. Aber das Lieblingswerk meines Mannes von Hesse …

  7. Liebe Birgit, nun einmal mehr: vielen Dank, dass ich auf so unterhaltsame Art etwas gelernt habe über die Biografie von Hesse, über die ich gar nichts wusste und dem ich lange albernerweise „vorgeworfen“ habe, wie sehr wir ihn in der Jugend angehimmelt haben. Sollte ihn wirklich mal wieder lesen und schauen, was passiert …

    1. Liebe Jutta,
      das ist glaube ich die übliche Hesse-Leser-Karriere: Man liest ihn schwärmerisch mit 16, 17 (ich erinnere mich an meine abgefriffenen Suhrkamp-Taschenbücher), dann findet man ihn antiquiert, und manche entdecken ihn in späteren Lebensjahren neu. So ergeht es mir: Auch wenn die Sprache manchmal für mich schwierig ist, ich finde darin soviel an Lebensweisheit, an Gelassenheit (die er, um noch ein biographisches Detail hinzuzufügen, da er offenbar manisch-depressiv war, sich hart erarbeiten musste), die für das eigene Leben nützlich ist und meine Bewunderung für diesen besonderen Menschen erhöht. Und da komme ich schon wieder in juveniles Schwärmen 🙂

      1. Ich bin jetzt wirklich neugierig geworden und werde mir vielleicht mal als erstes „Unterm Rad“ vorknöpfen – das kenne ich nämlich noch gar nicht. Muss allerdings einräumen, dass ich hinsichtlich sprachlicher Mängel ziemlich engstirnig geworden bin … Herzliche Grüße!

      2. Liebe Jutta, da muss ich aber nun flugs den Hesse verteidigen: Oh je, ich meinte nicht, dass er sprachliche Mängel aufweist, sondern, dass ich mir mit seiner Sprache bisweilen schwer tue: Sie ist eben etwas aus der Zeit gefallen, hat so eine altmodische Anmutung…aber in sich stimmig!

  8. Liebe Birgit, ich hatte es „eigentlich“ schon richtig verstanden und dann aber in der Spieltagsaufregung nachlässig formuliert … Ist ja direkt übel bestraft worden – dabei haben die Jungs das eigentlich gar nicht so schlecht gemacht. Aber wem sag ich das … Beste Grüße!

      1. Liebe Birgit, ich würde dir nicht übel nehmen, wenn du mir das jetzt nicht glauben würdest: Aber ich habe mich heute mit einer der Verlagsvertre-terinnen (deren Urteil ich sehr schätze) getroffen von K & M und was hat sie mir empfohlen? „Sex mit Hermann Hesse“ …

  9. Heute habe ich mir „Unterm Rad“ als Hörbuch zugelegt, es wird Zeit. Der Beitrag über Maulbron war letztlich der Auslöser dafür. Auch bei mir ist es… Jahrzehnte her, dass ich Hesse gelesen habe, abgesehen von dem ein oder anderen Gedicht. Ich bin gespannt darauf, ob er noch oder wieder seinen Zauber entwickelt. Thomas Mann hat z. B. beim Wiederlesen nicht verloren.

    1. Ja, dann bin ich auch sehr gespannt, ob der „Zauber“ der Hesse-Literatur noch einmal zurückkommt. Das Stichwort Thomas Mann erinnert mich daran, dass ich mir schon lange mal den Briefwechsel von Hesse mit dem Zauberer zulegen wollte…

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